New Orleans zehn Jahre nach KATRINA
Die seltsamen Zeichen findet man immer noch an den Häusern in New Orleans, manchmal in drei, vier Meter Höhe: Ein weißes X mit Sprayfarbe, darin seltsame Zahlen und Buchstaben. Es sind die Symbole einer Katastrophe, die mehr als 1800 Menschen allein in den USA das Leben kostete und eine Stadt, ja eine Region mit jahrhundertelanger reicher Kultur bis heute prägt. KATRINA war eine der größten Katastrophen in der Geschichte der USA. Und der gewaltige Hurrikan ist in New Orleans auch nach zehn Jahren noch präsent. Jeden Tag, fast überall.
"Das X war das erste, was ich sah. Es war ein seltsames, fast okkultes Symbol", sagt Etienne Skrabo. Er hat seine Heimatstadt überlebt, weil er aus ihr geflohen war. "Wir haben eine Weile gebraucht, um rauszubekommen, was diese Zeichen sollen." Die Retter von der Nationalgarde hatten es gezeichnet, nachdem sie nach Überlebenden gesucht hatten. "Oben im X steht das Datum, links die Nummer der suchenden Einheit, rechts eine Warnung vor Gefahren, zum Beispiel einem Gasleck oder auch den ständigen Giftschlangen." Und die Zahl unten? "Unten? Da stehen..." Skrabo stockt einen Moment. "Da haben sie immer eingetragen, wie viele Tote sie im Haus gefunden haben."
Kreuze noch immer an Hauswänden zu sehen
Überall in New Orleans findet man diese Kreuze. An einigen Häusern wurden sie sofort übermalt, aber andere zeigen sie bis heute. Trotzig. Stolz. Genau zehn Jahre, nachdem KATRINA über New Orleans und natürlich über die Karibik und andere Teile der USA herfiel, ist es eine Vergangenheit, die nicht vergehen will, die ständig und überall präsent ist. Dabei hat sich New Orleans besser entwickelt, als selbst die Optimisten gehofft hatten. Aber die Stadt ist wie ein Mensch, der Furchtbares erlebt und dann wieder Tritt gefasst hat: Es geht ganz gut, jeden Tag ein bisschen besser - und trotzdem kann das Trauma im Sekundenbruchteil zurückkommen.
"Ich war im vierten Monat schwanger", erzählt Shanice Williams. "Ich wollte nicht gehen, aber wir mussten. Und das war gut so. Sonst wäre ich jetzt tot." Sie schweigt einen Moment. "Nicht ich, wir wären jetzt tot", sagt sie mit einem Blick auf ihre neunjährige Tochter. Als sie wieder zurückdurften, stand das Wasser in ihrem Haus eineinhalb Meter hoch. "Kaum war es nach fünf Wochen abgelaufen, haben wir hier wieder geschlafen. Es war furchtbar, alles feucht und moderig. Aber es war zu Hause."
Schlimmste Naturkatastrophe in der US-Geschichte
Keine Naturkatastrophe hat je in der Geschichte der USA solche Schäden angerichtet. Um eine tödlichere zu finden, muss man fast 90 Jahre zurückgehen.
KATRINA steht nicht nur für einen gewaltigen Sturm, der über eine von Armut geprägte Stadt herfiel, sondern auch für ein technisches Desaster. Der Flutschutz der Region war völlig unzureichend, und so brach das Wasser am 29. August über die Stadt herein. Mehr als 1300 Menschen starben allein in New Orleans - ertrunken, erschlagen, getötet von Stromkabeln im Wasser oder explodierenden Gasleitungen. Und Hunderte galten als vermisst - zum Teil bis heute.
Ingenieure machten viele Fehler
"Es ist ein Desaster der Ingenieure", sagt Sandy Rosenthal. "Bei der Bekämpfung der Katastrophe wurden von Vielen viele Fehler gemacht. Aber dass es erst zur Katastrophe kommen konnte, ist allein die Schuld des Army Corps of Engineers." Die von Zivilisten geprägten Pioniere der US Army, seit 1965 für den Flutschutz auch in Louisiana zuständig, hatten die Flutmauern 17 Fuß, also gut fünf Meter, hoch gebaut. "Doppelt so hoch wäre nötig gewesen", sagt Rosenthal. "Doch das Army Corps hat 100 Millionen Dollar gespart und dafür eine kaum fassbare Katastrophe in Kauf genommen, von dem es hoffte, dass sie nie kommt. Aber sie kam!"
Rosenthal ist die Frau, die seit Jahren darum kämpft, dass das Corps zur Rechenschaft gezogen wird. Aber sie hat praktisch keine Chance, denn das gleiche Gesetz, das ihm die Zuständigkeit für den Flutschutz zuschob, enthob das Corps zugleich jeder juristischen Verantwortung. "Aber selbst, wenn nie ein Cent kommt, geht es um ein Zeichen. Wir brauchen das, die Opfer brauchen das", sagt sie.
Schon 2001 wurde vor einer Sturmflut gewarnt
Es ist nicht so, dass es keine Warnungen gegeben hätte. Der "Houston Chronicle" hatte schon 2001 eine mögliche Sturmflut und die Folgen auf New Orleans beschrieben, und die Präzision dieser Vorhersage im Vergleich mit der vier Jahre später eingetretenen Realität erzeugt Gänsehaut.
Aber als die Katastrophe kam, versagten alle. Die Stadt, die viel zu früh den Flug- und Bahnverkehr stoppte und somit Tausende in einer traditionell autoarmen Stadt an der Flucht hinderte. Der Bundesstaat, der die Katastrophe und ihre Folgen unterschätzte. Und die Bundesregierung in Washington, die zu spät reagierte und nicht einfach sofort trotz des fehlenden Hilfsersuchens des Bundesstaates Hilfe schickte.
Dammbrüche noch heute erkennbar
Heute sieht man an der Flutmauer, die sich durch New Orleans zieht, überall helle Stellen. Das sind die ausgebesserten Dammbrüche. Zuerst hatte die Mauer am 17th Street Canal nachgegeben, danach noch an mehr als 50 weiteren Stellen in der Stadt.
Etwa die Hälfte New Orleans liegt unterhalb des Meeresspiegels. Auf einer Breite von Hunderten Metern wälzte sich das Wasser in die Stadt. Zuletzt waren 80 Prozent unter Wasser.
Ninth Ward-Viertel am härtesten betroffen
Am härtesten traf es den Ninth Ward - so etwas, was man einen sozialen Brennpunkt nennt. Fats Domino wuchs hier auf, einer, der es geschafft hat und mit seiner Musik weltberühmt, ja zur Legende wurde. "The Fat Man" hat hier immer noch sein Häuschen, mit 87 mag er sich nicht mehr entwurzeln lassen. Doch er ist die Ausnahme. Die meisten Einwohner hier sind arm und schwarz. Und das Wasser ging über den Ninth Ward hinweg wie eine Planierraupe.
"So viele hier hatten alles verloren, obwohl sie kaum etwas hatten", sagt Carolyna Gallup. Die resolute Frau leitet ein episkopalisches Begegnungszentrum im Ninth Ward. Es ist ein schlichter, eigentlich hässlicher Bau, im Inneren hat man ihn mit wenig Material und viel Kreativität hübscher gemacht. Nach KATRINA wurden hier Tausende Helfer verpflegt. "Diese Gegend sah aus wie nach einem Krieg. Und zum Teil ist es ja immer noch so." Sie zeigt aus dem Fenster, auf der anderen Straßenseite reißen Bagger gerade einen Billigladen ein, der seit damals leer stand. "Nach zehn Jahren wird endlich aufgeräumt." Sie grinst. "Vielleicht, weil jetzt die ganzen Journalisten kommen."
Als die Flutwälle brachen, starben hier Hunderte. "Ich war ein paar Stunden zuvor in den Superdome gekommen", erzählt eine Mitarbeiterin Gallups, die in der gewaltigen Sporthalle Schutz gesucht hatte. "Sonst wäre ich heute tot."
Sichtbare Erfolge nach dem Wiederaufbau
"Jeder hat eine KATRINA-Story", sagt Gallup. "Und das verbindet die Menschen." Der Ninth Ward sei immer noch das Armenhaus einer armen Region. "Aber die Menschen halten jetzt fester zusammen und die Kriminalität ging zurück. Zumindest zeitweise."
Sie würdigt die Millionen, die zum Aufbau nach New Orleans gepumpt wurden. "Da ist zwar auch viel falsch gelaufen, aber die Erfolge sind nicht zu übersehen. Die Krankenversorgung ist richtig gut, selbst für die Ärmsten." Und es gebe mehr Geld für Bildung.
Familien in alle Teile der USA verstreut
New Orleans wurde dramatisch verändert, vor allem durch "den Exodus". "Hunderttausende wurden bei der Evakuierung in alle Teile der USA verstreut", erinnert sich Etienne Skrabo.
"Manche Familien kamen zu fünft zum Flughafen und dann hieß es: 'Nebraska, aber nur zwei Plätze. Entscheiden Sie sich, Ma'am, welches Kind sie mitnehmen.' Der Vater und die anderen beiden kamen ins nächste Flugzeug, das ganz woanders hinflog", erzählt Skrabo. Er kam nach Kalifornien. "Wenn Flüchtlinge in den Nachrichten sagten 'Mom, ich bin in Dallas!', 'Dad, ich bin in Atlanta!', dann nicht für einen lustigen Gruß. Sie wollten einfach sagen, wo sie sind."
New Orleans verliert ein Drittel seiner Einwohner
Die Stadt verlor mit KATRINA fast ein Drittel ihrer Einwohner. Die meisten von ihnen hatten einfach keine Lust mehr auf eine arme Region, über die ein paar Mal im Jahr ein Hurrikan herfällt. Fast jeder in der Stadt hat nun enge Verwandte irgendwo in den USA.
Der Ninth Ward hatte bei der Volkszählung 2000 genau 14 008 Einwohner. 2005 kam KATRINA, bei der Zählung 2010 waren es noch 2842.
Langsamer Weg bergauf
Doch langsam geht es wieder bergauf. Die Menschen kehren zurück. Nicht alle, nicht einmal die meisten. Aber die Tendenz ist deutlich. Mieten steigen, die Leerstandszahlen gehen zurück, und Menschen wie Eddie Salmanian kommen in die Stadt.
"Ich habe in Dallas gewohnt, aber New Orleans immer gemocht", sagt der Iraner. "Nach KATRINA hatte ich die Chance, hier einen kleinen Laden aufzubauen. Ich habe es nicht eine Sekunde bereut." Sein Laden sei ein Barometer im Ninth Ward. "Es leidet noch jeder, aber trotzdem ist da Optimismus. Und ich merke eindeutig, dass die Menschen wieder mehr Geld haben und sich etwas leisten."
Rund 5000 Selbstmorde wegen KATRINA
Und trotzdem ist da dieses Trauma. Anfangs, als das Wasser nach Wochen abgelaufen war, sah man es am "nuklearen Winter". "So nannten wir das Phänomen, dass es wegen des Salzwassers kein Grün mehr in der Stadt gab. Jeder Rasen, jeder Busch, war grau und tot. Es war wie ein Symbol", erklärt Skrabo.
Schätzungen zufolge, sagt er, habe es in den Jahren danach 5000 Selbstmorde gegeben, die direkt auf KATRINA zurückzuführen waren. "Und dann die gesundheitlichen Probleme. Ich habe im Haus meiner Tante nach Dingen gesucht, die man retten kann. Das Ergebnis war eine bakterielle Lungenentzündung. Die werde ich mein Leben nicht mehr loswerden - und ich bin noch ein Glückspilz."
Einzelhändler Salmanian ist ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, der sich seinen Optimismus nicht nehmen lassen will. "Den brauchen wir jetzt auch", sagt er und hält einen Schwatz mit einem Kunden. Aber die Sommer seien nicht einfach, nicht nur wegen der brütenden Hitze: "Es ist Hurrikan-Saison. Und man merkt den Menschen an, dass dann die ganzen Erinnerungen wieder hochkommen und sich jeder am liebsten vergraben will."
Hat KATRINA auch etwas Gutes bewirkt?
Es gibt Menschen in New Orleans, die ganz leise sagen, dass der Hurrikan New Orleans vielleicht gerettet hat. "Die Leute sind doch schon seit den Siebzigern in Scharen fortgezogen. Die Armut wurde immer größer, die Wirtschaft immer schlechter und wir waren die Mörderhauptstadt der USA." Die Wiederaufbauhilfe, die weltweite Beachtung und auch der Gewinn des Super Bowl im American Football 2010 waren, sagen einige, der Rettungsring für eine dahinsiechende Stadt. Eine Stadt, die sich scheinbar selbst aufgegeben hatte, sich aber jetzt wieder ihrer Stärken besinnt.
"New Orleans wird nie wieder so sein, wie es einmal war", sagt Gallup. "Mag sein, dass das die Chance für einen Neuanfang ist. Aber nachts träume ich trotzdem von einem großen Sturm, der all die neu hergezogenen Leute wieder wegwirbelt und all die alten Leute wieder herbringt."
dpa